Corona-Pandemie – Die harten Folgen für junge Zugewanderte aufarbeiten

Text von Theresa Grüner, Bernhard Scholze und Nicole Pötter

Im März 2020 begannen die ersten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit Schulschließungen. Das ist nun viereinhalb Jahre her. Die letzten Corona-Schutzmaßnahmen liefen im April 2023 aus. Die seit dem Frühjahr von Politik geführte Diskussion um eine Aufarbeitung der Corona-Pandemie zeigt, dass der Zeitpunkt für einen Blick zurück gekommen ist, bei dem vor allem Kinder und Jugendliche ins Zentrum gerückt werden müssen. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und neues Mitglied im Deutschen Ethikrat, Jutta Allmendinger, kritisiert in ihrem ZDF-Interview am 13. August, dass die sozialen Folgen der Pandemie viel zu lange ausgeblendet wurden. „Ebenso die Folgen für die Bildung unserer Kinder und deren Wohlergehen“ (Spiekermann, 2024). In der Politik ist man sich einig, dass Kinder und Jugendliche besonders unter den Corona-Maßnahmen gelitten haben. Rückblickend sagt Gesundheitsminister Karl Lauterbach: „Ich glaube, dass wir bei den Kindern noch viel gutzumachen haben“ (deutschlandfunk.de, 2024). Im ARD-Sommerinterview nennt Bundeskanzler Olaf Scholz die in Deutschland praktizierte Schließung von Schulen einen Fehler (dpa, 2024). Auch junge Zugewanderte am Übergang Schule-Beruf gehören zu der Gruppe, die besonders stark von den Pandemiefolgen betroffen sind. Sie wurden vielfach kurz- aber auch mittelfristig in ihrer Bildungsbiografie und ihren Integrationschancen zurückgeworfen (Maier, 2020; Schreyer & Bauer, 2021). Uneinig ist sich die Ampelregierung im Format, vor allem SPD und FDP haben sich laut Fraktionsvorsitzende der Grünen Britta Haßelmann „verhakt“. Da nur noch wenig Zeit verbleibt, um es in dieser Legislaturperiode noch zu schaffen, droht die dringende Aufarbeitung zu scheitern (Tagesschau, 2024).

Das BMBF hat ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie eine Förderrichtlinie aufgesetzt, um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie sichtbar zu machen. Das an der Hochschule München unter der Leitung von Professorin Nicole Pötter angesiedelte Projekt LokU 2.0 wird seit 2023 darüber gefördert. Es nimmt die corona-bedingten Veränderungen bei den Integrationsbemühungen von jungen, neu Zugewanderten in Ausbildung und Arbeit in den Blick. Einem Mixed-Methods-Ansatz folgend werden qualitative und quantitative Befragungen innerhalb von lokalen Unterstützungsnetzwerken in Großstädten durchgeführt. Im Herbst 2023 fanden 12 Experteninterviews mit Akteuren und Akteurinnen aus unterschiedlichen Großstädten in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz statt. Sie sind ein zentrales, koordinierendes Glied in ihrer lokalen Unterstützungskette für junge, neu Zugewanderte (z.B. Sozialreferat, Freie Träger). Die Ergebnisse zu corona-bedingten Auswirkungen im Handlungsfeld flossen in eine Online-Umfrage ein, die als erste Runde einer mehrstufigen Befragung mit der argumentativen Delphi-Methode im Frühjahr 2024 stattfand. Dabei nahmen 180 Akteurinnen und Akteure bspw. von Freien Trägern, Behörden, Kammern / Innungen aus 66 Großstädten teil. Aus den online geführten Experteninterviews sowie den offenen und skalierten Antworten aus der ersten Delphi-Befragungsrunde lassen sich drei Phasen des Umgangs der lokalen Unterstützungsketten mit der Pandemie beschreiben:

In der ersten Phase führte der Lockdown zu Disruptionen in den helfenden Netzwerken für junge, neu Zugewanderte am Übergang Schule-Beruf:

„Ja, also das war dann ja auch so eine Schockstarre irgendwo.“

Die Netzwerkarbeit kam während der Hochphase der Pandemie aufgrund der Kontaktbeschränkungen nahezu vollständig zum Erliegen. In Teilen gibt es bleibende Schäden in der Zusammenarbeit:

„Mit der Arbeitsverwaltung muss ich schon kritisch anmerken, da ist schon eine gewisse Nähe verloren gegangen. […] Und da habe ich den Eindruck, dass wir da in der Beziehungsarbeit jetzt noch mal sehr viel leisten müssen, um wieder an den Stand zu kommen, an dem wir eigentlich bis Ende 2019 schon mal waren.“ 

Die zweite Phase ist gekennzeichnet von notwendig gewordenen Adaptionen in der Netzwerkarbeit, die in einer dritten Phase zu sozialen Innovationen führen und die Arbeit in lokalen Unterstützungsketten künftig prägen könnten. Alle befragten Koordinatoren und Koordinatorinnen helfender Netzwerke bekräftigen, dass die Adaption an die Corona-Pandemie zu einem Digitalisierungsschub innerhalb der verschiedenen Organisationen geführt hat. Dabei wurde sich auch mit den Potenzialen und Grenzen digitaler Kommunikation auseinandergesetzt:

„Was vielleicht eine positive Entwicklung ist, dass man sich über diese Dinge grundsätzlich auch mal Gedanken macht, also sprich, welches Setting ist wofür eigentlich wirklich gut?“ 

Über die Hälfte (59%) der Akteurinnen und Akteure, die jungen, neu Zugewanderten bei der Integration in Ausbildung und Arbeit helfen, geben in der Delphi-Befragung an, dass die Erfahrungen der Pandemie eine Neuausrichtung der Unterstützungsangebote für die Zielgruppe erfordern.

Den Digitalisierungsschub im Handlungsfeld als direkte Corona-Folge herausgegriffen, wird mit der Umstellung auf digitalisierte Angebote ein großer Bedarf für die jungen, neu Zugewanderten sichtbar. Die Hilfesuchenden benötigen oft eine bessere Medienkompetenz, Ausstattung und digitale Infrastruktur. Auf der anderen Seite kann ein Präsenzangebot nicht einfach in ein digitales Angebot überführt werden. Neben der Art und Weise, wie Hilfesuchende gerne Hilfe bekommen möchten, sind auch Erkenntnisse aus der pädagogischen Psychologie wie die geringere Aufmerksamkeitsspanne in Webinaren zu beachten.

Den Schub aus der Corona-Zeit in Sachen Digitalisierung gilt es für die Praxis der Sozialen Arbeit zu nutzen, um in ähnlich gelagerten Krisen einen bedeutenden Schritt weiter zu sein und junge Menschen in einer der wichtigsten Übergangsphasen ihres Lebens adäquat unterstützen zu können.

Wir begrüßen die geforderte Corona-Aufarbeitung und tragen mit unseren Forschungsergebnissen – für das arbeitsmarktbezogene professionelle und freiwillige Engagement für junge, neu Zugewanderte – dazu bei. In diesem Blog-Beitrag haben wir den Digitalisierungsschub als ein wesentliches Merkmal der (post)pandemischen Transformation des Arbeitsbereiches herausgegriffen. Eine umfassendere Ergebnisdarstellung, u.a. zur Reaktivierung der Netzwerkarbeit nach der Pandemie, einer Neuausrichtung der Unterstützungsangebote und der (Re)Aktivierung freiwillig Engagierter findet sich in den veröffentlichten Working Papern.

Working Paper 1 – Interviews mit Netzwerk-Koordinator:innen
Working Paper 2 – Erste Runde der Delphi-Befragung

Lokale Unterstützungsketten für junge neu Zugewanderte –
Wandel und Potenziale im Zeichen der Corona-Pandemie

BMBF-Förderrichtlinie „Gesellschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie − Forschung für Integration, Teilhabe und Erneuerung“

Projektleitung: Prof. Dr. Nicole Pötter
Mitarbeitende: Theresa Grüner, Bernhard Scholze
Laufzeit: 1. Februar 2023 bis 31. Januar 2026
Förderkennzeichen: 01UP2227
Kontakt: loku@hm.edu


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